
Seit dem Bürgerkrieg in Syrien 2011 und der damit verbundenen Flüchtlingskrise in Europa 2015/2016 sehe ich in Deutschland immer wieder sehr unstrukturierte und undifferenzierte Diskussionen rund um Ausländer. Es gibt keine klare Problembenennung und als Lösung sieht man unterschwellig kommuniziert nur "Ausländer raus", wie z.B. an dem von der CDU eingebrachten Zustrombegrenzungsgesetz, welches den Fokus auf die Begrenzung des Zuzugs von Ausländern legt, während wir in Deutschland eine alternde Bevölkerung haben. Ohne Zuwanderung wird Deutschland schrumpfen.
Über wen reden wir?
Aleksa Muncan, Auszubildender für Altenpflege, unterstützt seine Familie in Deutschland:
"Geduldete":
Syrer, die ihre ganze Kindheit in Deutschland verbracht haben:
Wir renden hier von hunderttausenden von Menschen, die in Deutschland leben, arbeiten und steuern zahlen. Menschen, die in Deutschland geboren sind und teilweise die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Kinder, Auszubildende, Kollegen. Menschen, denen wir mit der Art wie wir über sie reden, das Gefühl geben, dass sie nicht willkommen sind. Menschen, denen wir Angst um ihre Zukunft machen.
Ausländer: Flüchtlinge, Migranten, Kinder
Politiker und Medien werfen zwei (ggf. drei) Gruppen von Menschen im öffentlichen Diskurs in einen Topf:
- Flüchtlinge sind Menschen, die aus ihrem Land fliehen, weil sie dort verfolgt werden. Dies kann aus politischen, religiösen, ethnischen oder geschlechtsspezifischen Gründen geschehen. Auch Kriege und bewaffnete Konflikte zwingen Menschen zur Flucht. Ihr Leben ist in ihrer Heimat in Gefahr. Sobald ein Flüchtling einen Antrag stellen will, wird er als Asylsuchender bezeichnet. Wenn der Antrag vom Bundesamt erfasst wurde, wird er als Asylantragstellender bezeichnet. Sobald der Asylantrag positiv beschieden wird, ist er ein anerkannter Flüchtling. Subsidiär Schutzsuchende würde ich auch als Flüchtlinge bezeichnen, obwohl sie nicht die Genfer Flüchtlingskonvention erfüllen. Das sind Menschen, die z.B. wegen Blasphemie oder ihrer sexuellen Orientierung in ihrem Heimatland verfolgt werden. In Deutschland leben 3,48 Millionen Flüchtlinge, (Stand 2024) (4,1% der Einwohner Deutschlands), davon 1,18 Millionen aus der Ukraine.
- Migranten sind Menschen, die aus verschiedenen Gründen in ein anderes Land ziehen, z. B. wegen besserer wirtschaftlicher Perspektiven oder familiärer Bindungen. Flüchtlinge sind eine Untergruppe der Migranten. Der Begriff "Menschen mit Migrationshintergrund" umfasst sowohl Migranten selbst als auch deren Kinder und Enkel. 2023 lebten in Deutschland etwa 10 Millionen Migranten ohne Fluchthintergrund.
Sowohl Flüchtlinge als auch Migranten bekommen natürlich Kinder. In Deutschland kann seit 2000 in bestimmten Fällen das Geburtsortsprinzip angewandt werden (§ 4 Abs. 3 StAG), allerdings kann es auch passieren, dass Kinder in Deutschland geboren werden und staatenlos werden (Quelle).
Flüchtlinge werden durch die Genfer Flüchtlingskonvention geschützt. Insbesondere beinhaltet es völkerrechtlich das Verbot der Ausweisung und Zurückweisung von Flüchtlingen. Der Gedanke ist, dass man Menschen nicht in den Tod schicken sollte.
Migration kann man regulieren und begrenzen. Hier hat man Gestaltungsspielraum. Bei Flüchtlingen ist es wesentlich schwieriger, wenn man sich an geltendes Völkerrecht halten möchte.
Eine im politischen Diskurs wichtige Gruppe sind irreguläre Migranten, also Menschen die sich ohne legalen Aufenthaltsstatus in Deutschland befinden. 2022 gab es 56.000 dokumentierte Fälle. Hinzu kommen 304.308 ausreisepflichtige Menschen in Deutschland, von denen aber 82% der "Ausreisepflichtigen" eine Duldung besitzen; sie können also nicht abgeschoben werden (Quelle). Geduldete fallen somit nicht unter die Kategorie der Papierlosen/ Irregulären. Die Zahl der "unmittelbar Ausreisepflichtigen" – also Personen, die tatsächlich irregulär sind – beläuft sich auf 56.163 (Stand: Dezember 2022).
Was sind Deutschlands Probleme?
Meine Antwort darauf ist:
- Wohlstandsverlust: Steigende Mieten, Lebensmittelpreise, Energiepreise, Sozialabgaben für die Krankenversicherung und die Rente bei gleichzeitig nicht so stark steigenden Löhnen führen zu einem Reallohnverlust. Dies trifft insbesondere Geringverdiener hart. Der Wohlstandsverlust wurde in den letzten Jahren vor allem durch die COVID-19 Pandemie 2020 - 2023 und den Ukraine-Krieg 2022 verursacht. Die während der Merkel-Regierung geschaffene Abhängigkeit von russischem Erdgas, die Hochwasserkatastrophen 2021, sowie die Ever Given Blockade des Suezkanals 2021 haben ihr Übriges getan. In Zukunft wird der Klimawandel durch Ernteverluste, Fluten, Dürren und Flucht von Menschen aus den Tropenländern zu weiteren Wohlstandsverlusten führen. Der demographische Wandel in Deutschland wird dazu führen, dass immer weniger Arbeitnehmer immer mehr Rentner finanzieren müssen. Das führt zu höheren Sozialabgaben für Kranken-, Renten-, und Pflegeversicherung. Die nächsten Beitragserhöhungen sehen jetzt schon fest (Quelle).
- Infrastruktur: Straßen, Brücken, Schulen und Krankenhäuser sind in einem schlechten Zustand. Ökonomen fordern 600 Milliarden für die Infrastruktur, nachdem wir Jahre lang auf fiskalische Konsolidierung gesetzt, aber im selben Zeitraum Infrastruktur-Schulden gemacht haben. Ein Zeichen dafür ist der Einsturz der Carolabrücke 2024. Ich kann mich aber auch daran erinnern, dass es monatelang in meiner Schule durch die Decke getropft hatte.
Zur Erhöhung des Wohlstands gibt es viele Möglichkeiten, die man grob in zwei Kategorien teilen kann: Umverteilung und Produktionssteigerungen (sowohl von Gütern als auch von Dienstleistungen). Dabei muss man sehen, dass eine Umverteilung von oben nach unten zu höherem Konsum und damit einer höheren Wirtschaftsleistung führt. Eine Umverteilung von unten nach oben führt zu einer geringeren Wirtschaftsleistung, da Menschen mit hohem Einkommen einen geringeren Konsumanteil haben.
- Steuern für geringe Einkommen senken: Eine Abschaffung des Solis hilft nur
Menschen, die ihn auch zahlen. Das ist ab einem Jahresbruttoeinkommen von
96.820€
der Fall. Den Soli abzuschaffen verteilt also Geld von Menschen mit geringen
Einkommen zu Menschen mit hohen Einkommen. Ähnlich sieht es bei aktuell
vorgeschlagenen Lohnsteuersenkungen aus. Bei Steuern, die zu einem hohen
Anteil von Menschen mit geringen Einkommen bezahlt werden, profitieren
Menschen mit geringen Einkommen bei einer Senkung. Das sind z.B.:
- Steuern auf Lebensmittel senken
- Steuern auf Energie senken
- Vermögensteuer wieder einführen
- Millionen-Erbschaften und Schenkungen effektiv besteuern
- Zuschüsse des Staates zur gesetzlichen Krankenversicherung erhöhen: Ein Systemwechsel zum Beveridge-Modell erscheint mir wünschenswert. Jeder sollte für die gesetzliche Krankenversicherung zahlen und auch auf die Leistungen zugreifen können. Wenn man die Kosten progressiv z.B. mit der Lohnsteuer gestaltet, dann ist das auch eine Umverteilung von oben nach unten. Im Gegenzug könnte man die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung abschaffen. Wenn hingegen gesetzliche Krankenkassen die Kosten für Bürgergeldempfänger tragen müssen, ist das eine Umverteilung von Arm zu Reich.
Um Win-win-Situationen zu schaffen, muss man die Wirtschaftsleistung erhöhen. Das passiert vor allem durch eine planbar erhöhte Nachfrage. Das kann man durch langfristige Investitionen erreichen. Das können Investitionen in die Infrastruktur sein - Straßen, Brücken, Schulen, Krankenhäuser. Um die Infrastruktur zu verbessern ist vor allem Geld nötig. Man kann dafür die Schuldenbremse lockern, Steuerbetrug bekämpfen, Steuern erhöhen oder Ausgaben in der Verwaltung senken. Teilweise kann man die Wirtschaft auch durch Regulierung und einen sicheren Rechtsrahmen ankurbeln. Oder umgekehrt formuliert: Unsicherheit ist ein Investitionshemmnis. Wenn die Planungs- und Genehmigungsverfahren für Windkraftanlagen so lange dauern, wird es teuer. Dann wird es unattraktiv.
Wir benötigen eine Effizienzsteigerung in der Wirtschaft um dem demographischen Wandel entgegenzuwirken. Eine Erhöhung des Mindestlohns sollte einige Effekte haben: (1) Menschen in Teilzeit haben einen höheren Anreiz mehr zu arbeiten (2) Ineffiziente Unternehmen gehen pleite und machen damit Platz für effizientere Unternehmen oder Praktiken. Das sieht man z.B. daran, dass wir in Deutschland keine Einpacker in Supermärkten haben. Wir nutzen auch so gut wie immer einen Bankautomaten und keinen Schalter. Selbstbedienungskassen verbreiten sich weiter, umso teurer die Arbeitskraft wird. Firmen wie Hilti können ihre Produkte nur so teuer verkaufen, weil sie den Bauarbeitern Zeit sparen - und die Arbeitszeit teurer ist. Ein höherer Lohn führt also zu dem nötigen Druck um bekannte Effizienzsteigerungen durchzusetzen. Im europäischen Vergleich sind wir hinter Luxemburg, Irland, den Niederlanden und Belgien eines der Länder mit dem höchsten Mindestlohn. Erhöhungen sollten hier vorsichtig durchgeführt werden.
Günstigen Wohnraum schafft man in Städten durch Wohnungsbau. Ein kleiner Teil der Lösung kann auch Leerstands- und Fremdnutzungsbekämpfung sein, z.B. durch erhöhte Steuern auf Leerstand und dem Verbot der Fremdnutzung von Wohnraum (AirBnB). Wenn wir nicht alle paar Jahre wieder die gleiche Diskussion um Mietpreise haben wollen, sollte der Staat über die Städte und Gemeinden genug Wohnraum im Besitz haben, um den Markt zu regulieren. Wohnraum können wir günstig durch serielles und modulares Bauen schaffen.
Migrationsspezifische Probleme
Der Zuzug von Menschen kann Probleme verursachen, die gelöst werden müssen. Es sind definitiv nicht die großen Probleme unserer Gesellschaft, aber wir tun uns auch keinen Gefallen, wenn wir sie ignorieren. Ich würde mir wünschen, dass wir die politische Energie angemessen verteilen: Wohlstand von finanziell schwachen Menschen steigern sollte Priorität haben. Migration ist ein Nebenschauplatz. Weil es aber nun so stark diskutiert wird, will ich die auf die Probleme eingehen, die Migration verursachen kann.
Ein paar der Probleme sind tatsächlich schon gelöst ✅, andere haben Lösungsideen ⏳, aber leider gibt es auch offene Probleme ❌.
✅ Flüchtlings-Verteilung in Europa
Wie verteilen wir Flüchtlinge und die finanzielle Belastung in Europa?
Wir haben ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem. Das sollten wir nutzen um Folgendes zu erreichen: (1) Effektive Erfassung Einreisender an den EU-Außengrenzen (2) Verteilung mit einem Fokus auf die Integration - wer die Sprache spricht oder bereits Verwandte in einem Land hat, sollte dort hin (3) Faire Verteilung aller Kosten - also Kosten für die Erfassung, Unterbringung, und Integration.
Im Dezember 2023 lebten die meisten Geflüchteten laut Statista in Zypern, Tschechien, Deutschland, Österreich und Estland. Sehr wenige Geflüchtete leben in Rumänien, Portugal, Ungarn, Slowenien, Kroatien und Italien:
Das könnte daran liegen, dass der Verteilungsschlüssel sinnvollerweise nicht nur nach Einwohnerzahl, sondern auch nach dem Steueraufkommen berechnet wird. Wenn sich ein Land drücken will sollte man das Land europarechtlich zur Verantwortung ziehen. So hat der EuGH Ungarn 2024 zu 200 Millionen + täglich 1 Millionen Zwangsgeld verurteilt, weil EU-Asylregeln nicht umgesetzt wurden.
Das ist also ein gelöstes Problem ✅. Wenn es einzelne Staaten gibt die sich nicht an die Absprachen halten, muss man vor den EuGH. Und wenn man existierende Absprachen ändern will, muss man konkret benennen, was man ändern will und warum.
✅ Flüchtlings-Verteilung in Deutschland
Flüchtlinge werden in Deutschland mit dem EASY-System verteilt. Im Grunde gibt es eine Quote die auf dem Königsteiner Schlüssel basiert. Dabei spielt zu 2/3 das Steueraufkommen und zu 1/3 die Bevölkerungszahl eine Rolle.
Wie es innerhalb eines Bundeslandes aufgeteilt wird ist Sache des Bundeslandes. Bayern hat das beispielsweise in § 3 der Asyldurchführungsverordnung geregelt.
Eine interaktive Karte zeigt die tatsächliche Verteilung.
❌ Föderalismus: Sorgen und Lösungen für Kommunen
In Deutschland haben wir das bizarre System, dass der Bund und die Länder vieles entscheiden können, was die Kommunen dann umsetzen müssen - und was sie auch finanzieren müssen.
23% der Kommunen geben an mit der Unterbringung überlastet zu sein, bei 6% verursacht das keine Problem und 71% sehen es als machbare Herausforderung.
Würden wir mit seriellem und modularem Bauen günstigen Gemeinschaftswohnraum schaffen, könnten wir die Wirtschaft ankurbeln und diese Herausforderung meistern. Es würde uns resilienter gegenüber künftigen Herausforderungen wie z.B. Fluten, Kriegen, oder Pandemien machen.
57% der Ausländerbehörden geben an überlastet zu sein. Das liegt unter anderem daran, dass sie sich mit Arbeitserlaubnissen auseinandersetzen müssen. Würden wir pauschal allen anerkannten Flüchtlingen eine Arbeitserlaubnis geben, wäre auf einen Schlag ein großer Teil der Arbeit weg. Es könnte auch andere Probleme verhindern. Im November 2023 hat man beschlossen, dass Geflüchtete nur noch ein 6-monatiges Arbeitsverbot haben; zuvor waren es 9 Monate.
Für die Kinderbetreuung könnte man sicherlich auch innerhalb der Geflüchteten selbst Lösungen finden. So könnten ein paar einen Job bekommen und andere arbeiten gehen.
⏳ Wie integrieren wir anerkannte Flüchtlinge effektiv?
Dabei geht es um Sprachkurse, die Anerkennung von Abschlüssen und die Integration in das soziale Umfeld. Um das zu messen könnte man sich auf den Job konzentrieren. Wer mindestens 2 Jahre in einem sozialversicherungspflichtigen Job ist und mindestens B1-Sprachkentnisse hat, ist integriert.
⏳ Wie gehen wir mit arbeitslosen Migranten um?
Migranten ohne Fluchthintergrund sollten einen Mehrwert für die Gesellschaft schaffen. Deutschland hat (befristete) Aufenthaltserlaubnisse (1) zum Zweck der Ausbildung, (2) dem Zweck der Erwerbstätigkeit (inkl. Blaue Karte EU), (3) für humanitäre Zwecke, und (4) Familiennachzug.
Wenn wir nun nur die arbeitslosen Migranten, welche eine Aufenthaltserlaubnis zwecks Erwerbstätigkeit haben betrachten, dann sollten wir eine deutlich geringere Arbeitslosenquote sehen. Bei einem Aufenthalt zwecks Ausbildung sogar gar keine. Bei dem Aufenthalt zwecks humanitärer Zwecke (Flucht) oder Familiennachzug reden wir häufiger über Menschen, welche keine Arbeitserlaubnis bekommen oder die Sprache nicht sprechen. Hier ist als mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu rechnen.
✅ Kriminalität und Terrorismus
Schwere Straftaten wie Mord oder Vergewaltigung verursachen immer einen großen medialen Aufschrei, insbesondere wenn sie von Ausländern begangen werden. Zuletzt:
- 2024 Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt: Der Täter ist mit einem Auto in die Menschenmenge gerast. Er wurde in Saudi-Arabien geboren, hat seit 2020 als Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie gearbeitet. Er war ein anerkannter Flüchtling, Islam-Kritiker, und Anhänger der AfD. Der Täter war den Behörden bekannt.
- 2024 Messeranschlag in Solingen: mutmaßlich islamistischer Terroranschlag eines syrischen Asylsuchenden. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, da Bulgarien zuständig war. Die Abschiebung wurde dann jedoch nicht durchgeführt.
Insgesamt muss man sagen: Deutschland ist sicher. Natürlich existiert Ausländerkriminalität. Und selbstverständlich sollte man dagegen vorgehen - genau wie gegen Kriminalität, welche von Deutschen begangen wurde.
Ein guter Artikel von der Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB) dazu:
Christian Walburg: Migration und Kriminalität – Erfahrungen und neuere Entwicklungen, 2020.
Wenn wir nun über die oben genannten Anschläge reden, muss klar sein, dass zumindest bei dem Fall in Magdeburg der Täter offensichtlich psychisch krank war. Wir haben hier als Gesellschaft versagt, weil wir einem Kranken nicht die nötige Behandlung haben zukommen lassen - notfalls auch mit Zwang.
Das passiert nicht nur mit Ausländern. In der Liste der Terroranschläge seit 1945 sehe ich 84 neonazistische, 68 rechtsextremistische, 22 linksextremistische und 13 antisemitische Anschläge.
§ 53 Aufenthaltsgesetz Abs. (1) lautet:
Ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wird ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
Diese Fassung des Aufenthaltsgesetzes ist seit 2005 in Kraft. Wir haben also die rechtlichen Mittel. Und wir schieben auch ab - wenn auch nicht immer nur wegen Kriminalität. 2024 gab es 18.400 Abschiebungen.
Ich markiere das mit ✅ als gelöstes Problem, weil wir einen funktionierenden Rechtsstaat haben. Ja, es gibt Kriminalität und Terrorismus. Auch von Ausländern. Aber es spielt für den Staat keine Rolle, ob es ein Ausländer verübt hat oder nicht. Vor dem Gesetz sollten alle gleich sein.
❌ Durchführung von Abschiebungen
Sobald rechtlich sicher entschieden wurde, dass jemand abgeschoben werden soll, gibt es ein paar praktische Probleme, weshalb 62 Prozent geplanter Abschiebungen scheitern:
- Person nicht auffindbar: Die Person muss ja gar nicht auf der Flucht sein. Im Fall des Solinger Messeranschlags hat man es wohl einmal versucht den Mann zu Hause anzutreffen und es dann nicht mehr versucht.
- Rückführungsflüge fallen aus
- Annahmeverweigerung des Zielstaats: Hierunter würde ich es auch zählen, wenn der Zielstaat die Zustellungsbedingungen unnötig kompliziert macht.
- Medizinische Probleme des Betroffenen
Im Januar 2024 hatte der Bundestag mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen ein Gesetz für mehr und schnellere Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber beschlossen. Es sieht insbesondere verlängerte Haftmöglichkeiten für Abschiebepflichtige und mehr Rechte der Polizei bei Durchsuchungen von Unterkünften vor.
Bevor man das Thema erneut aufgreift würde ich mir wünschen, dass man zuerst die genauen Gründe für die gescheiterten Abschiebungen analysiert. Nur mit einer vernünftigen Problemanalyse kann zuverlässig funktionierende Lösungen finden.
Fehlerhafte Problemanalyse

Im aktuellen CDU-Wahlprogramm steht: "Großangelegter Sozialleistungsmissbrauch, im Inland und von im Ausland lebenden Menschen, muss beendet werden". 2022 wurde der Schaden auf 273 Millionen Euro geschätzt (Quelle). Für Cum-Cum/Cum-Ex beträgt das Volumen hingegen mindestens 35 Milliarden in Deutschland - also 128x so viel. Die ehemalige Staatsanwältin Anne Brohiker klärt auf dem 38C3 auf und bringt konkrete Vorschläge. Nichts davon findet sich im CDU-Wahlprogramm. Natürlich sollte beides bekämpft werden. Die Priorität sollte aber klar sein. Und letzteres wird zumindest nicht explizit erwähnt. Auch von Share-Deals und andere "Steuergestaltungsmöglichkeiten" fasst man nicht an.
Eine ähnlich fehlerhafte Problemanalyse bzw. Lösungsfindung sieht man häufiger nach Anschlägen. Da macht ein jahrelang in Deutschland ansässiger Arzt einen Anschlag und die Lösung ist dann, dass die Grenzen kontrolliert werden sollen. Das nennt man Security-Theater: Maßnahmen, die nur gemacht werden, um den Eindruck von Sicherheit zu erwecken.
Man kann die fehlende Effektivität auch anders betrachten: Wir hatten 2024 etwa 2760 Verkehrstote und 2.510.000 Unfälle in Deutschland. Geschwindigkeitsbegrenzungen halbierten die Unfallzahlen auf der A4 bei Dresden. Wenn wir so einfach ohne nennenswerte Kosten hunderte von Menschen retten könnten, geht es Merz offensichtlich nicht um Menschenleben. Sonst müsste er ein generelles Tempolimit fordern.
Und wenn es um psychisch kranke Menschen geht:
- In Deutschland sitzen derzeit etwa 45.000 Personen in Justizvollzuganstalten ein. Schätzungen zu Folge leiden bis zu 88 % dieser Personen unter einer oder mehreren psychischen Erkrankungen (Quelle).
- Gerade auf dem Land fehlen Therapeuten, es gibt Wartezeit von bis zu einem Jahr (Quelle)
- Es ist unbekannt wie viele Menschen eine Therapie benötigen, aber keine bekommen. Oder sich nicht trauen überhaupt danach zu suchen, weil Linnemann ein Zwangsregister für psychisch kranke will und Berufsverbote drohen.
2 Wortbrüche = 1 Dammbruch?
In der letzten Woche gab es zwei Abstimmungen, die mich dazu bewogen haben, diesen Artikel zu schreiben:
- Merz 5-Punkte-Plan zur Verschärfung der Migrationspolitik am Mittwoch (Ergebnisse). Die 5-Punkte des Antrags sind:
- Dauerhafte Grenzkontrollen zu allen Nachbarstaaten: Das ist europarechtlich nicht möglich. Deutschland ist Mitglied des Schengen-Raums. Das bedeutet, dass es keine Grenzkontrollen zu anderen Schengen-Staaten gibt (Verordnung (EU) 2016/399, Artikel 22). Es gibt nur Kontrollen an den Außengrenzen. Das ist auch gut so, denn das erleichtert den Handel und den Tourismus. Deutschland hat außerdem 3876 km Außengrenzen. Die Grenze zwischen den USA und Mexiko ist nur 3145 km lang und kann schon nicht effektiv kontrolliert werden. Will Merz wie Trump eine Mauer bauen? Oder will er Tausende von zusätzlichen Polizisten dafür einstellen? Welche Steuern will er dafür erhöhen?
- Einreiseverbot für alle Personen, die keine gültigen Einreisedokumente besitzen, unabhängig davon, ob sie ein Schutzgesuch äußern oder nicht - die europäischen Nachbarstaaten seien bereits sichere Staaten für Verfolgte. Das würde massive Kosten verursachen, selbst wenn man es nur temporär über Kontrollen machen will. Und was hindert die Personen einfach sofort wieder am nächsten Tag einzureisen? Wollen wir wegen 56.163 irregulärer Migranten, welche vermutlich keine Sozialleistungen beziehen und uns daher nichts kosten, die Europäische Union gefährden? Wer das leichtfertig mit "ja" beantwortet, der sollte mal einen Blick auf den Brexit werfen.
- Inhaftierung vollziehbar Ausreisepflichtigen, auch in leerstehende Kasernen und Containerbauten. Abschiebungen müssten "täglich stattfinden", regelmäßig auch nach Afghanistan und Syrien. Kasernen und Containerbauten sind keine Gefängnisse, man müsste also für teures Geld Umbaumaßnahmen durchführen. Ob und wann Abschiebungen stattfinden ist nicht nur von Deutschland abhängig, sondern auch vom Zielland. Nehmen wir mal optimistisch an, dass es im Schnitt 20 Tage wären. Seit 2014 haben wir im Schnitt etwa 20.000 Menschen pro Jahr abgeschoben. Ein Tag im Gefängnis kostet im Schnitt 110€/Tag, also würden wir jährlich 2.2 Millionen EUR nur dafür ausgeben. Zusätzlich muss man sagen, dass in Afghanistan die Taliban herrschen und in Syrien ist der IS stark. Menschenrechte verbieten, dass wir Menschen in solche Länder abschieben - auch wenn sie dort geboren sind und auch wenn sie hier straffällig geworden sind.
- Unterstützung für die Länder beim Vollzug der Ausreisepflicht. Die Bundespolizei soll Haftbefehle für Abschiebehaft oder Ausreisegewahrsam beantragen können. Hier bin ich mir unsicher, was das bedeuten würde. Hört sich für mich erst mal sinnvoll an. Vielleicht kann mir jemand mehr dazu schreiben.
- Ausreisepflichtige Straftäter und Gefährder sollen in einem zeitlich unbefristeten Ausreisearrest bleiben, bis sie freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren oder die Abschiebung vollzogen werden könne.. Einze zeitlich unbegrenzte Inhaftierung hört sich nicht legal an. Insbesondere scheint man hier keinen Unterschied zwischen Geflüchteten und Migranten ohne Fluchtursache zu machen. Und solange das Schwarzfahren eine Straftat ist, wegen der Menschen tatsächlich inhaftiert werden, sehe ich solche allgemeinen Aussagen kritisch.
- Zustrombegrenzungsgesetz am Freitag (Ergebnisse), mit folgenden Kernpunkten (Quelle):
- Im Aufenthaltsgesetz soll nicht nur die Steuerung, sondern auch die "Begrenzung" des Zuzugs von Ausländern erneut als übergeordnetes Ziel festgeschrieben werden. Das Wort "Begrenzung" war 2023 gestrichen worden. Hat das mehr als Symbolwirkung?
- Der Familiennachzug für subsidiär Schutzbedürftige soll eingestellt werden. Gemeint sind Menschen, die kein Asyl bekommen, aber aus anderen Gründen vorerst in Deutschland bleiben können. Der subsidiäre Schutz war bereits zwischen 2016 und 2018 ausgesetzt worden. Seit 2018 dürfen aus humanitären Gründen pro Monat 1.000 Angehörige von subsidiär Schutzberechtigten nach Deutschland kommen. Man will also nicht mal mehr 1000 Härtefälle pro Monat erlauben? Wie viel von diesem Kontingent wird aktuell genutzt? Ich stelle mir hier minderjährige Kinder vor die nachziehen. Ist diese Vorstellung richtig?
- Die Bundespolizei soll eine eigene Zuständigkeit für "aufenthaltsbeendende Maßnahmen" an den deutschlandweit 5.700 Bahnhöfen erhalten, für die sie mit zuständig ist. Die Beamtinnen und Beamten sollen künftig auch selbst Anträge auf Haft und Gewahrsam stellen können, um die Abschiebung nicht aufenthaltsberechtigter Ausländer zu gewährleisten. Bisher müssen sich die Bundespolizisten dafür an die jeweilige Landespolizei wenden. Das kann ich nicht einordnen. Bedeutet das mehr Arbeit für die Polizei oder weniger Bürokratie?
Meine Gedanken zu dem Thema werden recht gut durch folgendes Video repräsentiert:
Obwohl ich den 5-Punkte Plan sehr kritisch sehe und bei dem Zustrombegrenzungsgesetz zumindest unsicher bin, was das bringen soll, ist der eigentliche Skandal der Wortbruch bzgl. folgender zwei Aussagen:
- Friedrich Merz, 23.12.2021: "Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an."
- Friedrich Merz, 12.11.2024: "Ich möchte, dass wir jetzt nur noch die Dinge auf die Tagesordnung setzen, die wir vorher im Konsens zwischen Opposition und restlicher Regierung vereinbart haben um uns alle - die Regierung und uns - davor zu Bewahren, dass wir plötzlich Zufallsmehrheiten im Saal mit der AfD oder den Linken haben. Ich will das nicht." (Quelle: Phoenix vor Ort, auf YouTube).
- Thorsten Frei, 16.12.2024: "Wir werden deshalb nach der Vertrauensfrage in keine großen Verhandlungen einsteigen, sondern mit Rot-Grün nur über Vorhaben sprechen, die dringlich und zwingend geregelt werden müssen" (Quelle). Mit der Begründung wurde das Kraftwerkssicherheitsgesetz von der Union blockiert, mit dem wasserstofffähige Gaskraftwerke ausgeschrieben werden sollten (Quelle).
Die Ampel hat keine Showanträge eingebracht, um die Union nicht vorzuführen (Video). Man hat sich seit dieser Aussage auf einige Gesetzesvorhaben gemeinsam geeinigt:
- Finanzierung des Deutschlandtickets
- Schutz des Bundesverfassungsgerichts
- Kalte Progression bekämpfen und mehr Kindergeld
Dass die Union den Antrag zur Migrationspolitik unabgestimmt eingebracht hat, deutet auf eine Bereitschaft der Zusammenarbeit mit der AfD hin. Entgegen der versprochenen Absprachen vor der nächsten Bundestagswahl, testet man jetzt die Reaktionen aus - um ggf. dann mit Duldung der AfD eine Minderheitsregierung zu führen. Oder im schlimmsten Fall sogar eine Koalition mit der AfD einzugehen. So viel zur Brandmauer.
Die CDU entgegnet wenn die Ampel dem Antrag zugestimmt hätte, hätten wir die Stimmen der AfD nicht gebraucht zeigt damit: Wenn es der CDU in den Kram passt, arbeitet sie mit der AfD zusammen und bricht gleichzeitig ihr Wort.
Was gewinnt Merz?
Man kann bei geplanten Abstimmungen wohl ausschließen, dass die Vorgänge spontan oder unüberlegt waren. Dass ehrliche Sorge um Deutschland der Grund für sie ist, ist wohl ausgeschlossen, weil man sonst ja mit der SPD und den Grünen eine gemeinsame Lösung gesucht hätte, die dann auch umgesetzt wird. Warum hat man also den Antrag eingebracht? Ich sehe folgende Gründe:
- Wahlkampf um Rechte Stimmen: Die AfD hat bei dem Antrag am Mittwoch und dem Zustrombegrenzungsgesetz am Freitag gejubelt. Bei den Wählern sieht es sicher ähnlich aus. Um Julia Klöckner zu zitieren: Für das, was Ihr wollt, müsst Ihr nicht AfD wählen. Dafür gibt es eine demokratische Alternative: die CDU..
- Vorbereitung auf Minderheitsregierung: Die CDU/CSU könnte aus machtpolitischen Gründen eine Minderheitsregierung unter Duldung der AfD anstreben. Mit den Grünen will Söder nicht zusammenarbeiten und auch die SPD mit Scholz schließt Söder aus (Quelle). Da wirds schon eng.
- Vorbereitung auf Koalition mit der AfD: Im Prinzip ein ähnlicher Gedanke wie der vorherige. Das hängt sehr von der Stimmung im Land und von der Stärke der AfD ab. Aktuell halte ich das für unwahrscheinlich. Noch, am 2. Februar 2025, schließt Merz eine Zusamenarbeit mit der AfD aus. Allerdings behauptet er auch noch, dass die CDU nie mit ihr zusammengearbeitet hat.
- Vorbereitung auf AfD-Verbot: Die AfD könnte nach der Wahl verboten werden (Quelle). Das Parteiverbot führt zu einem sofortigem Mandatsverlust. Das bedeutet, dass sich die Mehrheitsverhältnisse ändern. Hätte die Union bei der Wahl 37% der Sitze und die AfD 27% durch die 5%-Hürde, so würde ein Verbot der AfD bedeuten, dass die Union bei 51% wäre.
Psychologische Aspekte
Wir haben Millionen Ausländer in Deutschland, die unsere Pflegeheime am laufen halten, unsere Kranken versorgen, unsere Kinder betreuen, an den Kassen im Aldi sitzen und unsere Pakete ausliefern. Millionen Menschen, die gute und wichtige Arbeit leisten. Menschen die unsere Sozialsysteme stützen. Und viele Tausend die mit extrem guten Qualifikationen z.B. als Software-Entwickler nach Deutschland gekommen sind und vielleicht das nächste Google gründen.
Zitate wie die folgenden und Diskussionen wie die oben genannten schaden dem Bild von Deutschland in der Welt:
- Friedrich Merz, 27.09.2022: Wirft ukrainischen Flüchtlingen "Sozialtourismus" vor (Videoquelle auf YouTube der "Welt"); am 30.01.2024 hat er behauptet, dass die Einwanderung "fast außschließlich in die sozialen Sicherungssysteme erfolgt" und damit das Narrativ das faulen Ausländers bedient (Quelle).
- Friedrich Merz, 11.01.2023: Nennt 8-jährige Kinder aus dem arabischen Raum "kleine Paschas" und will diese abschieben, wenn sie sich in der Schule daneben benehmen (Videoquelle auf YouTube)
Das ist bereits im Osten ein Problem (1, 2, 3, 4, 5). Und jetzt wird es verschärft. Deutsche Kinder mit Migrationshintergrund bekommen Angst.
Wer will in ein solches Land kommen? Wenn wir uns weiter entscheiden Ausländer prinzipiell als Problem zu diskutieren, bekommen die Rechten irgendwann was sie wollen: Ein Land, in das niemand mehr kommen will.
Siehe auch
- BPB: Demografie von Asylsuchenden in Deutschland, 10.01.2024.
- Tagesschau.de: Asylbewerber, Flüchtlinge, Migranten - was sind die Unterschiede?, 07.08.2015.